Lesetipp von Sylvia Schmieder: Keine leichte, aber lohnende Lektüre. Die Lyrikanthologie „Ah, ein Herz, verstehe“, herausgegeben von Jakob Leiner, versammelt 101 Dichtende aus fünf Jahrhunderten zum Thema Krankheit und Heilung.

Entspannt schmökern kann man eher nicht, in einem Lyrikband, der mit Cholera, Syphilis und Depressionen jongliert statt mit Waldesrauschen und Liebessehnsucht. Ich habe nach der Lektüre nicht unbedingt einen Arzt gebraucht, aber man macht doch viel durch, von totaler Desillusionierung in Bezug auf menschliche Körpersäfte über den Morphiumrausch bis hin zum Wahnsinn vergangener Kriege. Dennoch habe ich die „Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren“ mit viel Gewinn gelesen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Herausgeber Jakob Leiner, selbst Arzt und Lyriker, vom Vorwort bis zu den „Biogrammen“ am Ende der Anthologie sorgfältig und liebevoll gearbeitet hat.

Zwischendurch fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, dass so viel Recherche- und Sammelleidenschaft in Sachen Krankheit und Tod wohl nur ein ziemlich junger Mensch entwickeln (und durchhalten!) kann, der sich von all dem noch weit entfernt fühlt. Trost spenden nämlich auffällig wenige der ausgewählten Verse. Die meisten sehen einfach hin. Und die – für mich – schönsten schaffen es dennoch, mich zum Lächeln zu bringen, wie die der Renaissance-Dichterin Louise Labé, die ihre Gefühle so erstaunlich direkt und modern fließen lässt. Wilhelm Klemm war für mich ebenfalls eine Neuentdeckung: ein so ausdrucksstarker wie witziger Lyriker, der zwischen den Weltkriegen veröffentlicht wurde und dann in Vergessenheit geriet. Oder Alfred Lichtenstein, unter anderem mit „In der Lungenheilstätte“: drastisch, komisch, am Schluss ein eigenwilliger Dreh ins Zart-Poetische. Auch von Erich Kästner und Robert Gernhardt findet man großartige Verse, die nicht jeder kennt.

Am Schluss eine kleine Parade der Krankheiten und Traumata heutiger Dichterinnen und Dichter. Bemerkenswert, wie sehnsuchtsvoll Clemens Johann Setz seinen – verschwundenen – Tinnitus besingen kann. Zwei Texte von Tara Meister, der Spoken-Word-Künstlerin, beenden die Anthologie und beweisen, dass wir alle, gleich welchen Alters, schon jetzt unsere Vor-Tode erleben müssen.

Jakob Leiner (Hrsg.), Ah, ein Herz, verstehe. Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren. Quintus Verlag,2024, 280 Seiten, 25 €