Lesetipp von Norbert Gehlen: „Im Kielwasser der Zeit“ von Maria Bosse-Sporleder

Überlebenskünstler im wogenden Meer der Geschichte

Mit ihrer Stimme, die mal zart, mal kraftvoll klingt, zieht die ältere Dame die Zuhörerinnen und Zuhörer gleich in ihren Bann. Die „Kulturkapelle“ in Freiburg-Günterstal bietet einen würdigen Rahmen für diese Lesung, zu der sich etwa 25 Menschen eingefunden haben. Schwer zu glauben, dass die Frau, die da aus ihren „autofiktiven Geschichten“ vorliest, bereits 90 Jahre alt sein soll! „Im Kielwasser der Zeit“ hat Maria Bosse-Sporleder ihr neues Buch betitelt. Ein treffender Titel für eine Geschichtensammlung, die nicht nur die halbe Welt von Russland bis nach Kanada durchmisst, sondern auch anderthalb Jahrhunderte von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.

Eine Schiffsreisende zwischen sehr unterschiedlichen Welten erzählt da von ihrer Kindheit in Tallinn (damals Reval, in Estland), von deutscher und sowjetischer Besatzung, von Flucht und Emigration, vom Studium in Kanada und Frankreich, von beruflichen Stationen als Dozentin für deutsche Sprache und Literatur in Finnland und Kanada sowie von wiederholten Reisen zurück zu den hinter ihr liegenden Schauplätzen ihres bewegten Lebens. „Herkunft“ – so sind ihre Erkundungsreisen in die Vergangenheit ihrer Familie überschrieben. Gleich zu Beginn stehen „weiße Servietten“ symbolisch für eine mit Kindermädchen und Köchin gut situierte Familie von selbstständigen Kaufleuten, in die sie hineingeboren wurde.

In einer der Kindheitsgeschichten erinnert sie sich an die sonntäglichen Besuche ihres Großvaters väterlicherseits – da erscheint vor ihrem inneren Auge seine große Gestalt mit schwarzem Mantel und Pelzmütze, auf schneebedeckter Straße. Er hält im Arm eine Tüte mit leuchtenden Orangen, „weil die gut sind für die Kinder“ – sie sind damals so kostbar, dass man sich normalerweise nur zu Weihnachten eine Orange gönnt. Solche Bilder sind es, die den oft mit überraschenden Wendungen aufwartenden Geschichten Leben und einen gewissen Glanz verleihen.

Ihr siebter Geburtstag: Erinnerungen an den Geburtstagstisch mit weißer Spitzentischdecke, an den Schulranzen aus Pappe als Geburtstagsgeschenk, an unbeschwerte Spiele im sonnigen Garten – es ist der 27. September 1939, bald soll sie in die Schule kommen, aber an diesem Tag erliegt das lange umkämpfte Warschau dem Ansturm der deutschen Wehrmacht: „Nicht ahnte ich, dass – kaum fünf Wochen später – wir mitsamt Pappranzen und unserer gesamten Habe auf einem Schiff den Hafen Revals verlassen würden, einem drohend unbekannten, einem Umsiedlerleben entgegen.“

Solche Einzelepisoden aus der Kindheit oder von späteren Reisen in die alte Heimat wechseln ab mit den rekonstruierten Kurzbiografien ihrer Eltern und Großeltern, die so spannend und ungewöhnlich verlaufen, dass man ihnen staunend folgt. Und wo es an Fakten mangelt, ergänzt sie die Lebensgeschichten mit ihrer Vorstellungskraft. Da ist zum Beispiel das Leben des Großvaters mütterlicherseits (1858–1938): erfolgreicher Geschäftsmann, bekleidete öffentliche Ämter, erkrankte an Tuberkulose. Nach der Heilung in Davos: Weltreise über Kanada, USA, Japan, China, Indien, Ägypten und Italien in die Schweiz. Ein Foto von dieser Reise zeigt ihn als „Lichtgestalt mit weißem Anzug und Tropenhelm neben einem … Inder, der einen Elefanten führt.“

Als noch dramatischer beschreibt die Autorin das Leben ihres Vaters (1889-1971): Der Ingenieur für Schiffsbau macht auf seiner „Jungfernfahrt“ über den Äquator Heizerdienst tief unter Deck, vier Stunden Kohlen schaufeln. Jahre später, als Juniorchef der Seeversicherungsgesellschaft in Tallinn, wird er mit einem Notruf an Bord eines im Hafen auf Grund gelaufenen Schiffs gerufen – und lässt dafür seine Braut eine Dreiviertelstunde vor dem Traualtar warten … Es sind immer wieder solche Wechselfälle des Lebens, Fügungen, Anekdoten, mit denen die Autorin Farbe in ihre Geschichten bringt.
1941: Während seine Familie bereits 1939 Estland verlassen hat, hält der Vater die Stellung in der väterlichen Firma. Dann wird auch er von den Sowjets zur Umsiedlung gezwungen und muss bei der Gepäckkontrolle mit ansehen, wie ein Kommissar stapelweise Dokumente aus seinen Aktenordnern reißt: Da liegen dann sämtliche Belege für seine zurückgelassenen Besitztümer am Boden der Zollbaracke verstreut.
1942: Auf Geschäftsreise in Berlin wird der Vater eines Nachts von der Gestapo verhaftet. „Die peinigende Sorge: Er hat Hitler-Witze erzählt, von seiner kritischen Haltung keinen Hehl gemacht. Erst nach Wochen die Klärung: Er wird eines Wirtschaftsverbrechens bezichtigt, das gar nicht stattgefunden hat.“

Nach dem Krieg landet er mit seiner Familie zunächst als Flüchtling im deutschen Bad Kissingen; dann Weiterreise zu Verwandten nach Kanada. Jobs als Lagerverwalter, Tellerwäscher, schließlich Existenzgründung als Fotograf, mit Fotostudio im Wohnzimmer und Labor im Bad. Man kann sich nur wundern über diesen Überlebenskünstler, dessen Tod die schreibende Tochter mit bewegenden Worten beschreibt: „Am Spätabend noch eine Morphiumspritze. Seine Augen sind weit offen; er sieht etwas, was die Tochter nicht sieht. Sie hört ihn Worte formen, erkennt den Namen seiner Heimatstadt. Früh morgens ist sie kurz eingenickt. Wird sie wach, weil sie seinen Atem nicht mehr hört?“ Kein Wort zu viel, da zeigt sich die sprachliche Kunstfertigkeit der Maria Bosse-Sporleder.

Weniger interessant für mit Tallinn/Estland nicht vertraute Leser sind die Besuche der Autorin in den Straßen und Häusern, wo sie früher gewohnt hat. Aber dann folgt da überraschend eine stilistisch interessante Textform: „36 Sätze über meine Mutter“. Kein zusammenhängend erzählter Lebenslauf, sondern einzelne Protokollnotizen, die dramatische Erlebnisse oder persönliche Charakteristika dokumentieren:
„Sie floh mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Schwestern 1918 vor den Bolschewiken nach Berlin …
Sie vergaß, panisch vor Sorge um ihre kranke Tochter, auch nur das Geringste zum Essen einzupacken, als die Familie am 20. Januar 1945 vor den Sowjets flüchten musste …
Sie stürzte sich als ‚landed immigrant‘ in Montreal mit den 50 Dollar Handgeld zum Einkauf in den Supermarkt, ohne ein Wort Englisch zu können.“
Allerdings: Weniger – also die Verdichtung, die Verkürzung auf 25 Sätze – wäre hier mehr gewesen.

Stilistisch originell auch der Text über die „Kleider meiner Mutter“: Sie erinnert sich an eine silberne Gürtelschnalle … „und plötzlich ziehe ich aus den Tiefen meines Bewusstseins … die Kleider meiner Mutter hervor. Und hänge sie auf die Leine meines Schreibens, jetzt. Da ist das luftige Sommerkleid … Da ist das Herzdame-Kleid zum Kostümball … Das schwarze Kostüm. Ich betrachte es auf dem Passfoto, das sie wohl machen ließ, als sie 1939 Estland verlassen musste. Sie sieht sehr respektabel darin aus. … Es wird in meinem Kleiderschrank hängen bleiben. Für wen?“

Den kleineren zweiten Teil des Buches bilden mal längere, mal kürzere Erzählungen von „Begegnungen“. Teils in der Ich-Form, teils in der dritten Person – ob die Autorin dies alles selbst erlebt hat, bleibt offen, ungesagt, bleibt in der Schwebe, wie so manches in ihren Geschichten. Da beschreibt sie beispielsweise die Vorgeschichte eines ersten Rendezvous im Kindesalter, wobei es erst im letzten Satz zu der ersehnten Begegnung kommt. Oder sie erzählt von Begegnungen mit einem ihrer Professoren über 30 Jahre hinweg, eine Freundschaft, die erst beim letzten Zusammentreffen in einer vorsichtigen Umarmung gipfelt.

Es geht meist um kurze, aber intensive Begegnungen, bei denen sich Nähe einstellt, in denen emotionale Spannung oder wortloses Verstehen, in denen Anziehung mitschwingt. Mal gibt es nur ein einziges Zusammentreffen, mal wiederholte Treffen in verschiedenen Lebensaltern, wie bei Robert: „Sie hatten sich aufeinander zu geschrieben, einander verschrieben.“ Das liest sich wie der Beginn einer Paarbeziehung. Dann jedoch, kurz bevor es ernst wird: „Urplötzlich hat ihre Welt sich gedreht; nichts ist mehr, wie es war … Nicht in Roberts Arme fallen, nein! Er wird fassungslos sein, traurig, verletzt. Sie weiß es. Und doch wird sie das Unerhörte tun, sich selbst um eine Überraschung voraus. Frei.“ Trotzdem wird daraus eine lebenslange Freundschaft.

Vor Anker gegangen ist Maria Bosse-Sporleder schließlich in Freiburg: als Dozentin für Deutsch an der PH, als Leiterin von Schreibwerkstätten (seit 40 Jahren!), als Lyrik-Kolumnistin bei der Badischen Zeitung und als Buchautorin: „Im fünften Koffer ist das Meer“ (2012) Auch sie eine Überlebenskünstlerin – nicht zuletzt mit Schreiben als Überlebensstrategie, so möchte man vermuten. Ein wechselvolles Leben, reich an Begegnungen und an Eindrücken aus den verschiedensten gesellschaftlichen Kontexten.

Was bleibt als Ertrag des Buches haften? Den Schilderungen der „Begegnungen“ gemeinsam ist ein feines Gespür für das Verbindende zwischen den Menschen, für das, was unausgesprochen mitschwingt, für Resonanz (oder deren Abwesenheit) – eine Anregung für die Leser:innen, bei eigenen Begegnungen darauf mehr zu achten und ein ähnliches Gespür zu entwickeln. Eine solche Klammer und Essenz vermisst man bei den Geschichten über die Herkunft, die familiäre Vergangenheit der Autorin. Sie verbleiben weitgehend auf der Ebene der nostalgischen Rückschau, der privaten Spurensuche, der Sammlung von Erinnerungen, der ehrenden Nachrufe. Warum sollte man sie heute lesen? Wünschen würde man sich – als Destillat reicher Lebenserfahrung – so etwas wie Orientierungsbojen oder Halteseile für unser eigenes Überleben im Strudel der Herausforderungen, im alles mitreißenden Kielwasser unserer Zeit.

Im Kielwasser der Zeit. Autofiktive Geschichten, 176 Seiten, Derk Janßen Verlag, Freiburg 2022