Lesetipp von Autor Thomas Berger: Der Roman „Saling aus dem Wald“ von Sylvia Schmieder.

edition federleicht, Frankfurt/Main, ISBN 978-3-946112-70-9

LITERATUR ALS KUNST DES OFFENEN
Thomas Berger über den Roman Saling aus dem Wald von Sylvia Schmieder

Gleich die ersten Sätze des Romans Saling aus dem Wald von Sylvia Schmieder, erschienen 2021 im Verlag edition federleicht, locken die Leser in eine geheimnisvolle Sphäre: Ein höchst seltsames Wesen erfährt in unbestimmter waldiger Gegend eine dreimalige (!) Geburt, wird von der Pflanzenwelt freudig begrüßt und gefeiert. „Dann nannten sie ihn Saling. Warum auch immer.“ (9) Wer oder was der solchermaßen Bezeichnete ist, der grammatikalisch im Maskulinum erscheint, bleibt im Ungefähren: „mehr alles als nichts“ (9). Entsprechend vage andeutend ist das Coverbild gestaltet, eine Radierung der in Norddeutschland lebenden Künstlerin O’Liese: Es könnte sich bei dem Ausschnitt eines Waldes um die Bezugnahme auf die Herkunft Salings „aus schwerer Erde, am eisig gurgelnden Bach“ (9) handeln.
An Überraschungen und Sonderbarkeiten ist das Buch der in Freiburg lebenden Autorin reich. So lesen wir beispielsweise, dass Saling sich gern von Täublingen, Kresse und Wasser ernährt, sich aber auch andere an ihm gütlich tun, etwa Igel und Rehe, was die Erzählerin so kommentiert: „Saling hatte seinen Spaß, obwohl es wehtat.“ (10) Auf so gänzlich unvermutete Weise geht es gewissermaßen Schlag auf Schlag weiter. Wir lesen, dass sich Saling verwandeln kann, und zwar mehrfach. Bei Gefahr durch Wildschweine wird er vorübergehend zu einer Flechte, so dass er sich in den Rillenrinden eines Kastanienbaumes zu bergen vermag. Das Zusammenhalten in der Natur klingt als Thema an: Saling glaubt, „etwas wie ein Kastanienlachen zu hören.“ (10) Er begreift seine Verwandlungsbegabung als „Liebe“ (11) und nutzt sie freudig, wird liebend zu einem Farn, einer Schnecke, einer Birke, einem Ameisenbau.
Eines Tages sieht er Menschen, hört, wie sich die Spaziergänger unterhalten. Rätselhaft heißt es: „Ihre Wörter und Sätze fand er in sich vor, nachdem er ihnen lange genug zugehört hatte.“ (13) Als Waldwesen weiß er nichts von menschlichen Behausungen. Er will die in ihm sich ausbreitenden Gedanken an die Menschen und ihre Lebensweise abschütteln, aber es gelingt ihm nicht. Sie setzen sich „mit kurzen, starken Wurzeln von innen überall fest“ (15) ̶ „Efeu“ ist denn auch das erste der zweiundzwanzig Kapitel des Bandes betitelt.
Salings Verwandlungen rühren von seiner geduldigen Einfühlsamkeit her. Als Amsel macht er sich zu den Menschen auf. Doch wie ist er zu einer Schwarzdrossel geworden? „Erst legte er sich zu den alten Amseln in die warmstaubige Erde, spreizte wie sie alle Glieder, blinzelte an denselben Lichtpunkten entlang wie sie. Dann hüpfte er hinter ihnen her. Er warf das Laub herum und pickte, federte vom Boden hoch, vom Ast hinab, hinauf, hinunter, wieder hinauf.“ (14)
Zunächst begegnet Amsel-Saling einem Jungen und einer älteren Frau, die an einer Bushaltestelle warten. Nun wird er zu einem Menschen, genauer: zu einer Frau, wiederum durch hingebungsvolle Beobachtung. „Er sah sich alles genau an. Ihre dunkelroten, struppigen Haare. Ihren rosa Mund. Die Nasenlöcher. Ihr Gesicht war viel heller und faltiger als das des Jungen. Von den Schultern bis auf die Knie trug sie ein grünes Kleid, und die nussharten Schuhe glänzten blauschwarz.“ (16/17)
In der Menschwelt lernt er ihm völlig unbekannte Dinge kennen, zum Beispiel „Gewitterschwärme aus Geräuschen, Gerüchen, Farben, Bewegungen“ (16). Es dauert nicht lange, bis wir merken, dass es sich trotz des märchenhaft anmutenden Charakters des Buches um einen Gegenwartsroman handelt: Handy (17), Notebook (39), Computerspiel (40), Corona (47), Hartz vier (48), SMS (59), weiße Schutzmaske (56), Smoothies (100), Laptop (127), Sozialticket (149), Facebook und Twitter (155), Pandemie (160), Smartphones (163), Internet (164), SUV (171).
Auch wenn er interessiert alles Neue beobachtet und sich darauf freut, bei seiner Rückkehr in den Wald „von den Menschen zu berichten“ (19), sind die Eindrücke, die der Protagonist empfängt doch ambivalent: „Immer wieder zog etwas Salings Blick an und stieß ihn wieder ab, bevor er irgendetwas verstanden hatte.“ (20) Wird er in der Menschenwelt heimisch werden? Früh sehnt er sich nach dem Wald zurück, doch er kennt den Weg dorthin nicht. Und da ist noch etwas: „Der Wald fing damals schon an, auf ihn zu warten.“ (22) Dies ist erneut ein Hinweis auf die Zusammengehörigkeit von Saling und Wald.
Bald verlässt er seine frauliche Gestalt. Er trifft auf einen verzweifelten Mann, der sich anschickt, Suizid zu begehen. Verwundert ruft der Mann aus: „Was bist du für einer, um Himmels willen!“ (27) Saling fragt ihn nach dem Weg zurück in den Wald. Doch dieser vom Leben Erschöpfte vermag ihm lediglich die Richtung zu weisen.
Saling fühlt sich fremd unter den Menschen, und auch ihnen erscheint er zutiefst absonderlich. Auf vielfache Weise bedrängen sie ihn. Einige wollen Fotos machen, eine Journalistin will wissen, ob man ihn als „etwas Außermenschliches“ (75) bezeichnen könne und ob es sich bei den von ihm behaupteten Verwandlungen um „die Fantasien eines Scharlatans“ (76) handele. Sie setzt ihn mit Fragen unter Druck, die auch manchen Leserinnen und Lesern des Romans durch den Kopf gehen mögen: „Ein Fake? Ein inszeniertes, intelligent kalkuliertes Spiel mit uralten Mythen? Mit der Sehnsucht nach dem Aufgehobensein im Schoß von Mutter Natur?“ (76) Saling antwortet nicht. Wir befinden uns im zehnten Kapitel des Buches, also ungefähr in der Mitte. Es ist, als berührten sich hier gleichsam Phantasie und Realität, die Sphäre des Wundersamen und die der Tatsachen. Wenige Seiten zuvor sinniert der Protagonist selbst: „Vielleicht dachte sich sein verrückter Salingkopf alles nur aus, was er sah, wirklich alle seine Erlebnisse und auch, dass er sich verwandeln konnte.“ (73) Sogleich folgt jedoch die interessante Aussage: „Aber wenn er sich nicht verwandeln konnte, war er nicht mehr der, der er war. Dann konnte er nichts, konnte sich nicht einmal selbst ausdenken – oder?“ (73)
Es dürfte sich bei diesem Kapitel um das Zentrum des Romans handeln, welches das gesamte bisherige und nachfolgende Geschehen ins Offene, Uneindeutige hebt ̶ dorthin also, wo das geistige Spiel seinen angestammten Platz in der Literatur hat, in unserem Fall die spielerische Auseinandersetzung mit der Frage der Identität, mit dem Gedanken der Veränderung, der Überwindung des Status quo sowie des Einsseins mit der Natur.
Wie geht es weiter in dem Roman, in den zahlreiche botanische und zoologische Erscheinungen eingestreut sind? Das Interview wird vom Privatfernsehen ausgestrahlt. Saling wird zu einem öffentlichen Phänomen, sehr zu seinem Leidwesen. Menschen locken ihn mit dem Versprechen, ihn in den Wald zurückzubringen. Doch längst ist die Polizei hinter ihm her. Nur mühsam gelingt es ihm, sich ihr dank seiner Verwandlungskunst zu entziehen. Einem Mann, der glaubt, an Leukämie erkrankt zu sein, und ihn fragt, was die Waldwesen in Krankheitsfällen machen, gibt er den ganz allgemein bedenkenswerten Rat: „Nichts ist manchmal mehr als etwas.“ (116) Und wirklich: Der eingebildete Kranke begreift: „ich soll also aufhören, in diesen ewigen Aktionismus zu verfallen, die Krankheit unserer Zeit, das ist es doch. Ich soll aufhören, das Internet zu durchforsten, Medikamente, Therapien, alternative Heilmethoden auszuprobieren, Seminare, Retreats, Vorträge zu besuchen …“. (117)
In den letzten Kapiteln zeichnet sich endlich eine Lösung für Saling ab. Ein Arbeitsloser nimmt ihn in seine Kellerwohnung mit. Sie kommen in ein Gespräch. Saling erscheint als Mensch, verwandelt sich jedoch bald in ein Drachenbäumchen. Als ein solches erkennen ihn die beiden Polizisten nicht, die an der Türe klingeln ̶ „Rechercheroutine“ (160), sagen sie. Der Mieter bringt dem Drachentöpfchen-Saling Verständnis entgegen und bringt ihn im Schutz der „Finsternis“, so der Titel des letzten Kapitels, in den Wald zurück.
Lange brauchen die Waldtiere, ehe sie Saling erkennen. Dieser stirbt nach einer gewissen Zeit ab, wird eins mit der Erde. Und nun wissen die Waldwesen, um wen es sich handelt. Nach wiederum sehr langer Zeit ersteht er neu. Geschickt schafft die Verfasserin einen erzählerischen Rahmen. Auf ersten Seite ihres Textes erwähnt sie eine „alte Buche, die sie die Große Beruhigung nannten“ (9), und auf der letzten Seite beschreibt sie Salings Neuwerdung folgendermaßen: „Er erkannte sie gleich, seine Große Beruhigung, die eben ein Blatt verlor. Gelb, braun, zu dritt, viert lagen sie in der Luft, fielen auf ihn zu, im tiefen Wald, am laubigen Hang. Und Saling schoss hoch auf.“ (173)
Der Protagonist des Romans ist als sympathisches, gutmütiges Wesen gestaltet, das Zärtlichkeit zu empfinden vermag. Anrührend ist zum Beispiel die Episode, in der er auf eine Neunjährige trifft. Die beiden freunden sich in liebevoller Weise an.
Auch sprachlich ist das Buch ansprechend gestaltet. Zwei Kostproben: „Und plötzlich“, lesen wir über den sich in einen Vogel verwandelnden Saling, „lag er auf der Luft! Sie war bachwasserkalt, die Luft, die ihn trug. Flaumig wie Moos strich sie am Bauch entlang, hob ihn hoch in die Kronen, torkelherrlich war das!“ (14) Und ein Ausschnitt aus einer Waldbeschreibung: „Ledern ragten Semmelstoppelpilze, Riesen im Wirrwarr, die einen Himmel bildeten, über dem sich weitere Himmel türmten, ein farblos flirrendes Universum, unergründlich und sehr anstrengend.“ (62)
Für wen ist dieser Roman geschrieben? Für alle, die sensibel genug sind, sich bezaubern zu lassen, und die gleichwohl den harten Boden der Wirklichkeit nicht ausblenden wollen. Für mündige Leserinnen und Leser, welche das Offene und die Mehrdeutigkeit zu schätzen wissen. „Das Lesen ist immer ein Umzug, eine Reise, ein Fortgehen, um sich zu finden“, befand der spanische Schriftsteller Antonio Basanta Reyes. Saling aus dem Wald ist in diesem Sinne ein treffliches Exempel geglückter Literatur und Leseerfahrung  ̶  wahrhaft ein jeu d’esprit!

Infos zum Autor Thomas Berger hier.