Lesetipp: „Aber sie empfand nichts“. Mit „Die Haut hat kein Gedächtnis“ legt Susanne Konrad ein Buch vor, das sich erzählerisch und wissenschaftlich ungewohnten Themen widmet.

 

Mit „Die Haut hat kein Gedächtnis“ legt Susanne Konrad ein Buch vor, das sich erzählerisch und wissenschaftlich ungewohnten Themen widmet.
Eine Neuerscheinung des Verlags DeWinter Waldorf Glass zur Frankfurter Buchmesse 2024.

Die Psychotherapeutin Caro hat ein Trauma zu bewältigen: Ihre Tochter ist aus einer Vergewaltigung hervorgegangen, weshalb es ihr schwerfällt, ihr echte, mütterliche Liebe entgegenzubringen. „Die Haut hat kein Gedächtnis“ von Susanne Konrad ist eine ungewöhnliche und mutige Erzählung, durch den begleitenden Essay als autofiktionale Literatur gekennzeichnet. „Sie dachte, wenn ich mein Kind anschaue, dann muss eigentlich eine Gefühlswoge in mir aufwallen. Aber sie empfand nichts.“ Feinfühlig folgt die Autorin den Verästelungen eines nicht vorhandenen Gefühls, das sich nach und nach doch entwickeln kann, weil die Herausforderungen angenommen werden und ein Reservoir an Liebe vorhanden ist. Eine spannende Geschichte, der man immer wieder gerne folgt.

Neben dieser inneren und äußeren Auseinandersetzung mit einer besonderen Mutterschaft erzählt Konrad aber noch viel mehr – fast eine ganze Lebensgeschichte. Es geht um die Liebe zu Thies, einem deutlich älteren Mann, um die Schwere von Alter und Krankheit, die Überforderung der Protagonistin, als ihre Eltern pflegebedürftig werden und sie gleichzeitig Großmutter wird. Erstaunlich genug, dass es der Autorin gelingt, all das immer wieder sinnlich und spontan zu schildern – so wenn Caro endlich, bei einer Abitursaufführung ihrer gesangsbegabten Tochter, zum ersten Mal den für andere Eltern so selbstverständlichen, tiefen Stolz erleben kann.

Auch ihre Liebe zu dem bald schon schwerkranken Thies wird immer wieder sensibel und glaubhaft ausgedrückt. „Sie spürte seinen Verlust, als hätte sich dieser bereits ereignet“, heißt es dazu schon in der Rahmenerzählung. Insgesamt waren es aber vielleicht doch zu viele große Lebensfragen, denen sich die Autorin auf einmal widmen wollte, denn hier und da wurde mir zu viel erklärt und analysiert, zu wenig erzählt, so, wenn es um Jenny Rieger, eine der Patientinnen von Caro geht. Nach einem für meinen Geschmack allzu harmonischen Zusammensein von Mutter und Tochter klingt die Erzählung noch einmal mit einer wunderbar dicht und überzeugend geschriebenen Szene zwischen Caro und Thies aus.

Auf die Erzählung folgt ein Essay: „Autofiktionales Schreiben als Schlüssel zur seelischen Gesundheit“ zeichnet diese – noch relativ neue – Thematik als Forschungsgegenstand nach und gibt auch konkrete Anleitungen zum Schreiben. Als wissenschaftlich entwöhnte Leserin habe ich die ersten Abschnitte als zu ausführlich empfunden. Es lohnt sich aber, durchzuhalten: Wenn es um die Erzählung der Verlegerin Helene Wolff geht – und um die Schlussfolgerungen daraus – wird es noch einmal richtig spannend. Auch die speziellen Voraussetzungen, Gefährdungen und Chancen psychisch belasteter Autoren werden kenntnisreich und überzeugend dargestellt. Ein Buch mit doppeltem Nährwert für die Seele, essayistisch und erzählerisch.

Susanne Konrad, Die Haut hat kein Gedächtnis. Erzählung mit einem Essay zum autofiktionalen Schreiben. DeWinter Waldorf Glass, Frankfurt a.M., 12 €.