Ein persönlicher Brief von Prof. Dr. Elisabeth Cheauré, der Leiterin des Zwetajewa-Zentrums, zum Krieg in der Ukraine.
Freiburg im Breisgau, 1. März 2022
Liebe Freundinnen und Freunde des Zwetajewa-Zentrums,
die mit Worten nicht zu fassende Katastrophe der Invasion russischer Truppen in der Ukraine macht mich fassungslos.
Das unendliche Leid, das die Menschen in der Ukraine, aber auch die Familien russischer Gefallener zu erdulden haben, ist kaum fassbar.
Können wir unsere Aufgabe, uns für einen kulturellen Austausch zwischen unseren Ländern, Deutschland und Russland, einzusetzen, überhaupt noch guten Gewissens fortsetzen? Auch wenn wir – ich kann das nicht oft genug betonen – unsere Arbeit völlig unabhängig von russischen staatlichen Strukturen und Finanzierungen leisten?
Gestern erreichte mich eine lange Nachricht einer engen Freundin aus Russland, mit der ich seit Jahrzehnten verbunden bin. Ich möchte Ihnen daraus kurz zitieren:
„Der entfesselte Krieg hat das Leben aus den Fugen geraten lassen, zumindest vorübergehend. Es ist unmöglich zu glauben, dass DAS passiert – in unserem Leben, vor unseren Augen, neben uns!!! Es war schon seit langem klar, dass eine gewisse Bösartigkeit vorbereitet wurde, aber DIESE Bösartigkeit hat alle Befürchtungen übertroffen. Die arme Ukraine. Das arme Volk. Sie versuchen verzweifelt, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen – und sie tun es fast im Alleingang. Ich kann Deinen Schock gut verstehen. Aber ich war und bin immer noch der Meinung, dass ein Land und ein Staat zwei verschiedene Dinge sind. Du hast dich in das Land, seine Kultur und seine Menschen verliebt. Und all diese Dinge bleiben gleich, weil die Menschen, mit denen Du kommuniziert hast und kommunizierst, wahrscheinlich Anti-Kriegs-Petitionen unterschreiben und mit Anti-Kriegs-Parolen auf die Straße gehen. In vielen Städten finden Proteste statt, und die Menschen gehen auch einzeln auf die Straße, um zu protestieren. Dieses Land, egal wie es heißt, UdSSR oder Russland, hatte für eine sehr kurze Zeit ein menschliches Gesicht. Jetzt ist es ein tierisches Grinsen. Das unüberlegte Handeln der derzeitigen Machthaber hat in den Köpfen der Menschen außerhalb des Landes ein hässliches Bild von Russland entstehen lassen. Das ist sehr traurig. Natürlich gibt es bei uns in Russland auch Idioten, die das Geschehen unterstützen, aber ich denke, sie sind in der Minderheit. Alles, was Du für unsere Kultur getan hast und weiterhin tun wirst, ist nicht verloren und wird nicht verloren gehen. Deine Arbeit ist gerade jetzt so wichtig.“
Freundschaften sind nur dann wirklich gut, wenn sie sich auch in Krisen bewähren. Dies gilt nicht nur für den persönlichen Bereich.
Wir werden selbstverständlich nicht so weitermachen wie bisher – und wir wollen dies auch nicht.
Bereits jetzt steht fest, dass die geplante Veranstaltung zum fünfjährigen Jubiläum des Zwetajewa-Zentrums am 18. Mai 2022 in dieser Form nicht stattfinden wird. An Stelle dieser Veranstaltung planen wir eine Benefiz-Veranstaltung für Flüchtlinge aus der Ukraine.
Außerdem bereiten wir einen „Solidaritäts-Salon“ vor, in dem wir Anti-Kriegs-Texte russischer Autorinnen und Autoren lesen werden. Auch der Erlös dieser Veranstaltung wird den Opfern dieses Krieges zufließen.
Die bereits angekündigte Veranstaltungsreihe zu 100 Jahre Rapallo-Vertrag wird in der geplanten Form im Mai 2022 (ab 9.5. jeweils montags, mit einer zusätzlichen Veranstaltung im Theater Freiburg am 23.5. um 11 Uhr) stattfinden. Das genaue Programm erhalten Sie in den nächsten Wochen.
Bitte bleiben Sie uns auch in diesen bedrückenden Zeiten treu und lassen Sie uns die Hoffnung nicht verlieren.
Mit herzlichen Grüßen
Ihre Elisabeth Cheauré
Vorsitzende des Zwetajewa-Zentrums, auch im Namen von Margarita Augustin, Olga Makarova und anderer Mitarbeitenden.
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