Lesetipp: Marlen Haushofer, Die Wand. Ein Natur-Gefängnis wird zur Chance auf ein bewussteres Leben.

„Mein Herz hatte sich schon gefürchtet, ehe ich es wusste.“ So beschreibt die namenlose Ich-Erzählerin ihre Reaktion auf die unsichtbare und unüberwindbare Wand, die ihr Tal von einer erstarrten Außenwelt trennt. In der Bergwelt, in der sie sich mehr zufällig aufhält, ist sie von nun an ganz auf sich gestellt. Oder doch nicht ganz: Die Haustiere, die ihr zulaufen, sind Hilfe und Verpflichtung zugleich. Und schon bald ist zu ahnen, dass diese Einsame unter ihrem Alleinsein weniger leiden wird, als sie selbst angenommen hat. Das Natur-Gefängnis wird zur Chance auf ein bewussteres, freieres Leben.

Diese Robinsonade der weiblichen Art hat die österreichische Autorin Marlen Haushofer schon 1963 geschrieben, doch die philosophischen und spirituellen Fragen, die „Die Wand“ aufwirft, sind zeitlos genug, auch heute zu faszinieren. Scharfsichtig, zutiefst pessimistisch und gleichzeitig mutig erkennt diese vom Überlebenskampf gebeutelte Seele, was wirklich zählt: nicht das Glück, sondern die Liebe. Nicht der Einzelne, sondern das Aufgehen im großen Ganzen. Präzise, niemals romantisierende Naturbeobachtungen machen diese ja eigentlich fantastische Erzählung so glaubwürdig. Ein Hund, eine Kuh, ein Stier und drei Katzen werden zu Charakteren, die in ihrem Reichtum menschlichen Romanfiguren in nichts nachstehen – und das ohne jede Vermenschlichung.

„Die Wand“ soll Marlen Haushofers autobiografischstes Werk sein – obwohl sie selbstverständlich nie so gelebt hat wie ihre Erzählerin. 1920 als Tochter eines Försters und einer Kammerzofe in Frauenstein (Österreich) geboren, hat sie nach dem Abitur ein Germanistikstudium abgebrochen, zwei Söhne aufgezogen und dem Zahnarzt-Gatten in der Kleinstadt Steyr nicht nur den Haushalt versorgt, sondern auch regelmäßig als Bürokraft geholfen. Ihre literarischen Schreibstunden musste sie sich mühsam erkämpfen. Mit nicht einmal ganz 50 Jahren ist sie an Krebs gestorben. Umso erstaunlicher ihr umfangreiches Werk: Für ihre zahlreichen Romane, Erzählungen und Jugendbücher ist sie schon zu Lebzeiten geachtet und ausgezeichnet worden. „Die Wand“ erlebte allerdings erst mit der Frauenbewegung in den 70ern einen ersten Rezeptionshöhepunkt und wurde 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt.

Marlen Haushofer, Die Wand. Roman. List-TB, 8,99 €